«Im Abseits zu stehen ist nicht souverän»
Selten hat eine Abstimmungsentscheidung die Schweiz nachhaltiger geprägt, aber auch blockiert wie das Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum vor drei Jahrzehnten. Seither ist unser Land auf der Suche nach einer stabilen Alternative für die Beziehungen zur EU. Denn die verbreitete Annahme, dass die Bilateralen auf Dauer eine solche Lösung sein könnten, hat sich als Illusion erwiesen. In der Aula der Uni Bern war 30 Jahre nach dieser Weichenstellung deshalb niemandem zum Feiern zumute, im Gegenteil. Ein «historischer Fehltritt» sei der damalige Entscheid gewesen, erklärte Alt Bundesrat Joseph Deiss unverblümt. Die Teilnahme am europäischen Binnenmarkt werde der Schweiz wohl nie wieder zu so vorteilhaften Konditionen angeboten. Aber das Lamentieren bringe nichts, man müsse nach vorne schauen. Und angesichts der vielen geopolitischen Herausforderungen der Gegenwart weise ja alles darauf hin, dass die europäischen Länder näher zusammenstehen müssten.
Lohnschutz europakompatibel gewährleisten
In der öffentlichen Debatte scheint diese Erkenntnis nur langsam zu reifen. Kathrin Amacker, Präsidentin der P-S-E, konstatierte eine «unangenehme Stille», seit der Bundesrat in den Verhandlungen mit Brüssel den Stecker gezogen habe. Andere Referierende kritisierten, dass die Europadebatte in der Schweiz einseitig auf Probleme fokussiert sei. Gerade beim umstrittenen Thema Lohnschutz sei das nicht länger gerechtfertigt, erklärte Markus Notter, ehemaliger Regierungsrat und heutiger Leiter des Europainstituts der Universität Zürich. Man vergesse bei dieser Diskussion nur zu gerne, dass vor der Personenfreizügigkeit in der Schweiz eine Regelung bestanden habe, die «als eigentliche Lohndumping-Maschine» zu bezeichnen sei: das Saisonnier-Statut. Notter präsentierte einen Vorschlag, den Lohnschutz künftig mit Instrumenten des europäischen Rechts zu verbessern. Wie damals nach dem EWR-Nein solle die Schweiz nun ein Folgeprogramm beschliessen, um sich in diesem Bereich besser und europakompatibel aufzustellen. «Das können wir völlig autonom tun.»
Eine Vision für die Rolle der Schweiz in Europa
Bei den Sozialpartnern stösst diese Idee noch auf Zurückhaltung. Sowohl Gewerkschafter Adrian Wüthrich (Travail.Suisse) als auch Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt setzen ihre Hoffnung derzeit auf den bundesrätlichen Weg: einen Einstieg in Verhandlungen erst nach vertieften Sondierungen und Abklärungen im Inland. Grundsätzlich aber glauben auch sie, dass dieser Knoten sozialpartnerschaftlich gelöst werden kann. Unternehmerin Aude Pugin, Präsidentin der Waadtländer Industrie- und Handelskammer forderte die Runde auf, diesen Punkt nicht immer isoliert zu betrachten, sondern gemeinsam mit den Chancen besserer Beziehungen mit der EU. Die Schweiz müsse diese Beziehungen «grösser denken und endlich eine Vision für ihre Rolle in Europa entwickeln».
«Handeln wir hier, handeln wir jetzt!»
Die Chancen in den Vordergrund rückten auch verschiedene Vertreterinnen und Vertreter der jüngeren Generationen, die am Anlass auftraten. So zum Beispiel Seraina Campell, Co-Präsidentin des Verbands der Schweizer Studierendenschaften (VSS), die aufzeigte, wieviel Potenzial im Austauschprogramm Erasmus+ stecken würde – gerade für einen Bildungsstandort im Herzen Europas. Die Beziehung Schweiz-EU waren in den letzten Jahren leider geprägt von vielen solchen verpassten Chancen. Monika Rühl, Direktorin von economiesuisse, appellierte deshalb in Bern an die Anwesenden: «Es braucht Lösungen, und wir müssen kompromissbereit sein. Die Uhr tickt. Handeln wir hier, handeln wir jetzt und tragen wir gemeinsam Verantwortung!»