Die Schweiz in Europa: Aufruf zum Handeln

Kevin  - Team s+v
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12 December 2022 Lesezeit: 5 Minuten
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Joseph Deiss
Am 6. Dezember wurde der «Aufruf zum Handeln» an einem Abendanlass in Bern vorgestellt. Alt-Bundesrat Joseph Deiss, welcher zu den 196 Unterzeichnenden des Aufrufs gehört, hielt in Bern eine Rede, welche im Folgenden nachgelesen werden kann.

Abseitsstehen ist keine Geste der Souveränität, sondern des Versagens. Durch das Mittragen von Entscheiden und durch Zusammenarbeit übt eine Nation ihre Macht aus und schützt sie. Ein Co-Pilot wirkt souveräner als ein blinder Passagier.

«Seit 1977 hat die Schweiz ihre handelspolitischen Ziele weitgehend erreicht. Sie ist in eine breite europäische Freihandelszone integriert, konnte aber trotzdem ihre Handelsunabhängigkeit, ihre Neutralität und ihren Agrarprotektionismus zu bewahren.» So schrieb ich 1979 in meinem Buch "Economie politique et politique économique de la Suisse" (S. 259) über das Freihandelsabkommen zwischen EWG und EFTA, das am 3. Dezember 1972 mit 72,5% Ja-Stimmen vom Schweizer Volk angenommen wurde.

Das war vor genau 50 Jahren. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, wie falsch diese Schlussfolgerung war, indem ich einerseits die erstaunliche Beschleunigung ignorierte, die die europäische Integrationsbewegung unter dem Anstoss von Jacques Delors erfahren wird, und andererseits, weil ich die Enge dieses Vertrags vergass, der sich auf Zollfragen für Waren beschränkte, während sich fortgeschrittene Länder wie das unsere auf Dienstleistungswirtschaften mit 80 % der Arbeitsplätze im tertiären Sektor zubewegten.

Zwanzig Jahre später kam dann der historische Fehltritt vom 6. Dezember 1992, als das Schweizer Volk, zugegebenermassen mit sehr knapper Mehrheit, den Europäischen Wirtschaftsraum ablehnte. Eine solche Gelegenheit wird nie wieder kommen. Nie wieder wird uns die volle Teilnahme am Gemeinsamen Markt zu so vorteilhaften Bedingungen angeboten werden.

Lamentieren nützte da nichts. Wir mussten uns der Herausforderung unserer Marginalisierung und der Stagnation der neunziger Jahre stellen. Die Bilateralen Abkommen I wurden im Jahr 2000 mit 67,8% Ja-Stimmen angenommen, die Bilateralen Abkommen II im Jahr 2004, wo die Schweiz die Freizügigkeit mit 56% bestätigte und unseren Beitritt zu Schengen mit 54,6% akzeptierte, beide anlässlich der Abstimmungen im Jahr 2005.

Das Schweizer Volk hatte weiter die Möglichkeit, sein Bekenntnis zur Personenfreizügigkeit mit 59,6% im Jahr 2009 und durch die Ablehnung der Initiative «Für eine massvolle Zuwanderung» mit 61,7% Nein-Stimmen am 27. September 2020 zu bestätigen.

Für die stark von der internationalen Arbeitsteilung abhängige Schweiz ist der freie Zugang zu den Märkten seiner wichtigsten Partner lebenswichtig. Der schliesslich gewählte Weg der bilateralen Abkommen führt jedoch zu einem fragilen und komplizierten Konstrukt. Mein Freund Jagdish Bhagwati, Professor an der Columbia University und grosser Verfechter des Freihandels, vergleicht es mit der berühmten "Spaghetti Bowl" und zitiert das Prinzip, wonach "man durch Teile nicht optimieren kann". Ich habe ihm immer geantwortet, dass Realismus in der direkten Demokratie oft die Bevorzugung des Zweitbesten, aber politisch Durchführbaren erfordert, anstatt das Unrealisierbare Erstbeste des Wissenschaftlers anzupeilen.

In der Bildsprache hat die Schweiz deshalb ein Netz von Hängebrücken, die wacklig sind und teuer im Unterhalt, der stabilen und leichter zu wartenden Plattform vorgezogen. Die Zerbrechlichkeit dieser bilateralen Konstruktionen äussert sich in den Unfällen, die immer wieder möglich sind. Ich denke an die Annahme der Initiative «Gegen die Masseneinwanderung» am 9. Februar 2014, an die Ablehnung des institutionellen Abkommens durch den Bundesrat am 26. Mai 2021 oder an die durch das Parlament erzwungene Rücknahme des Beitrittsgesuchs am 15. Juni 2016.

Hinzu kommt die rasche Alterung dieser Texte unter dem Druck des technischen Fortschritts oder der politischen Entwicklung. Ohne Aktualisierungen werden diese Verträge ausgehöhlt oder sogar obsolet. All dies hat dazu beigetragen, ein schädliches Klima zwischen der Schweiz und Brüssel zu schaffen. Diese Entwicklung birgt die Gefahr, die gesamte Konstruktion der Abkommen zu gefährden. Und das, obschon es der Schweiz in den letzten Jahren gelungen war, angesichts des beeindruckenden Umfangs der Wirtschaftstätigkeit mit den Mitgliedern der Union, eines der Länder zu sein, die de facto am besten in die grosse Wirtschaftsgemeinschaft integriert sind, das aber bei der Gestaltung der Zukunft unseres Kontinents am wenigsten mitbestimmen kann oder, besser gesagt, will.

Man kann es drehen und wenden, wie man will, Geschichte, Geografie, Wirtschaft, Kultur, Werte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, alles kommt zusammen, um uns daran zu erinnern, ob man es nun will oder nicht, dass die Länder Europas eine berufene Schicksalsgemeinschaft bilden, die auf einfachen und grundlegenden Fakten beruht. Dem Alten Kontinent wird die Neuausrichtung der Kräfte auf planetarischer Ebene nur gelingen, wenn er über interne Kontroversen hinausgeht und eine Einheitsfront gegen die anderen grossen Formationen darstellt, die um die Herrschaft der Welt wetteifern.

Der schmutzige Krieg in der Ukraine hat dies deutlich gezeigt. Die Fragen der Kooperation und der Sicherheit innerhalb Europas müssen bei Schönwetterlage geklärt werden. Wenn man mitten in einer Katastrophe reorganisieren muss, ist es meistens zum Scheitern verurteilt. Was tun, wenn eine grosse Atommacht alle Stricke des Völkerrechts, der Menschenrechte und der Vernunft zerreisst, und man nicht darauf vorbereitet ist? Und die Schweiz kann nicht abseitsstehen. Teil der Mitentscheidungsträger zu sein, ist immer souveräner als die Rolle des Trittbrettfahrers. Daher ist es dringend erforderlich, dass wir unsere Beziehungen zur Europäischen Union auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens wiederherstellen, wissend, dass jedes Abkommen Vorteile bringt, aber auch seinen Preis hat.

Unser heutiger Appell spiegelt diese Überzeugung wider. Wir brauchen einen breiten eidgenössischen Konsens der Kräfte an allen Fronten, um solche Fortschritte zu ermöglichen. Unser Handeln zielt nicht darauf ab, die Regierung zu belehren oder sich in die politischen Fragen des Alltags einzumischen. Die 200 Persönlichkeiten aus allen Lebensbereichen, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Politik wie auch ganz einfache Bürger die wir sind bekennen öffentlich, dass es in diesem Land breite Kreise gibt, leider eine oft schweigende Mehrheit, die die vitale Bedeutung dieser Wechselwirkungen anerkennen und bereit sind, Bundesrat und Parlament dabei zu unterstützen, in Richtung der Stabilität unserer gesamten vertraglichen Beziehungen zur Europäischen Union zu handeln.

Wir wollen eine Lähmung unserer Beziehungen zur Europäischen Union vermeiden. In diesen Zeiten der Rivalität zwischen den grossen planetarischen Polen, der wachsenden Feindseligkeit gegenüber der westlichen Welt, zu der auch wir gehören, im Moment da vor ihren Toren ein grausamer, verbrecherischer und unmenschlicher Krieg wütet, hat es keinen Sinn, sich auf den spontanen guten Willen anderer zu verlassen oder der Versuchung des einsamen und isolationistischen Weges erliegen zu wollen. In Europa, inklusive, Schweiz, ist nur eine verlässliche Partnerschaft, die durch ein breites und dauerhaftes Abkommen garantiert wird, für die Bewältigung der Zukunft tauglich. Das ist unsere Überzeugung, und deshalb sind wir bereit, uns persönlich einzusetzen, indem wir unsere Unterschrift unter unseren Appell setzen und unser gemeinsames Verantwortungsbewusstsein bezeugen.

 

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